Das urbane Wohnhochhaus
Leidenschaftliche Faszination und Dämonisierung gleichermaßen begleiten den Typus des Hochhauses, seit dieser in der Welt ist. Mehr als 130 Jahre sind nun nach der Erfindung des Hochhauses in den USA vergangen. Und mehr als 80 Jahre in Europa. Heute haben wir die Möglichkeit, nicht bei jeglicher Diskussion zum erneuten Mal diese grundsätzlichen Emotionen zu bemühen. Heute können wir nüchtern rückblickend beobachten, was über die Zeit gesehen ein gutes Hochhaus in der Stadt ausmacht. Und was eben nicht.
Wie das Hochhaus nach Deutschland kommt
In der ersten Phase des Hochhausbaus in Deutschland treten zukunftsorientierte Unternehmen als Pioniere auf. Sie entdecken in dem neuen Typus die Möglichkeit, ihr progressives Selbstverständnis zum Ausdruck zu bringen. Die Carl Zeiss AG lässt im Jahr 1915 das erste deutsche Hochhaus auf ihrem Firmengelände in Jena errichten. Ihm werden nach dem Ersten Weltkrieg Hochhäuser als Firmensitze in verschiedenen Städten in Deutschland folgen: der Siemensturm in der Berliner Siemensstadt, der Ernemannturm in Dresden-Striesen, der Borsigturm in Berlin, das Cammann-Hochhaus in Chemnitz und weitere.
In der zweiten Phase entdecken die Kommunen die Möglichkeit, das Hochhaus zum Ausdruck eines städtischen Selbstverständnisses zu nutzen. Damit wandern die Hochhäuser aus den peripheren Firmenstandorten in die Innenstädte. So initiiert die Stadt Düsseldorf im Jahr 1924 mit dem Wilhelm-Marx-Haus im Herzen der Stadt ein Büro- und Geschäftshaus. Im Jahr 1925 errichtet die Stadt Köln das Hansahochhaus in nur 135 Arbeitstagen mit einer Höhe von 65 Metern. Für kurze Zeit das höchste Hochhaus Europas, wird es zum Symbol für die Bedeutung der Domstadt als Handelszentrum.
In einer dritten Phase entdecken zukunftsoffene Stadtbauräte ab etwa 1925 die autonome Wirkkraft des Hochhauses für visionäre stadträumliche Überformungen der Innenstädte. Auch wenn der Paradigmenwechsel von 1933 dazu führt, dass nur Fragmente dieser Planungen realisiert werden, so entstehen doch einige der bis heute schönsten Hochhäuser des Landes. Der Leipziger Stadtbaurat Hubert Ritter legt ein Konzept für eine Ringbebauung mit Hochhäusern vor. Das 56 Meter hohe Europahaus wird im Jahr 1929 als erstes und einziges realisiert. Unter dem Münchner Stadtbaurat Fritz Beblo wird, Hermann Sörgels Studie eines Hochhausringes um die Münchner Altstadt folgend im Jahr 1929 das Technische Rathaus realisiert.
Wie das Wohnhochhaus nach Deutschland kommt
Waren nun Wohnhochhäuser bereits seit Beginn des Jahrhunderts Teil von europäischen Stadtutopien, wie Henri Sauvages Projekte für eine „Immeuble Metropolis“ oder Ludwig Hilberseimers Studien zur „Hochhausstadt“, gebaut wurden Wohnhochhäuser in Europa bis dahin nur wenige, wie zum Beispiel das Wohnhochhaus in der Herrengasse in Wien von 1932 oder der Torre Littoria in Turin von 1933. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird das Hochhaus als Wohnhaus eine wesentliche Rolle spielen. Nicht jedoch unter einer Wiederaufnahme stadträumlicher Debatten der Vorkriegszeit, sondern unmittelbar verbunden mit der Bewältigung der Wohnungsnot als einem der drängendsten Probleme der Nachkriegszeit. Nicht mehr das Selbstverständnis und damit einhergehend die Wirkkraft des Hochhauses sind der Maßstab der Beurteilung, sondern Ökonomie und Effizienz der Wohnraumversorgung. Damit tritt das Wohnhochhaus als ein „Haus für Alle“ in die Baugeschichte ein.
Die Grundsteinlegung der ersten Wohnhochhäuser in Deutschland findet bereits ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges statt. Die Stadt Hamburg initiiert ein innerstädtisches Quartier mit 12 Wohnhochhäusern für 3.500 Bewohner: die Grindelhäuser. Verheißungsvolle Versprechen wie das befreite Wohnen in einer vertikalen Gartenstadt mit großen Grünflächen für die Bewohner, treffen auf eine erbitterte Gegnerschaft, die etwa behauptet, dass Hochhäuser dem Volk schadeten, weil in ihnen angeblich weniger Kinder geboren würden als in niedrigeren Häusern. Letztendlich geben Wirtschaftlichkeitsberechnungen den Ausschlag für die Realisierung. Es entsteht ein Quartier mit komfortablen Wohnstandards, mit bester Anbindung an das Verkehrsnetz der Stadt, mit weiten Freiflächen, guten Nachbarschaften und bezahlbaren Mieten, ein Quartier, das sich bis heute großer Beliebtheit erfreut.
„Sternhäuser“ werden die beiden 17-geschossigen Häuser genannt, die als erste Wohnhochhäuser Bayerns ab 1952 in München als Teil einer Wohnsiedlung für Mitarbeiter der Firma Siemens entstehen. Der offene Charakter des Zusammenwirkens niedriger, mittelhoher und hoher Wohnhäuser wird als das wegweisende Siedlungsbild der Zukunft gefeiert. Auf der Brüsseler Weltausstellung steht 1958 die Siemens-Siedlung als ein Bekenntnis der jungen Bundesrepublik für eine weltoffene Zukunft und bringt damit den politischen und kulturellen Paradigmenwechsel in Deutschland zum Ausdruck.
Die Internationale Bauausstellung in Berlin verfestigt im Jahr 1957 endgültig das Bild einer Komposition niedrigerer und höherer Wohnhäuser in einer offenen Stadtlandschaft als Sinnbild einer zukunftsoffenen Demokratie versus der nur wenige Kilometer entfernt in Ostberlin entstehenden Stalinallee, deren Bebauungscharakter einem gänzlich anderen Paradigma folgt, dem, „Paläste für das Volk“ zu schaffen.
Diese letzte Nobilitierung leitet eine Bautätigkeit ein, in der es in den kommenden beiden Dekaden, in denen die Fertigstellungszahlen von Wohnungen in noch nie erreichte Höhen steigen, kaum Alternativen zum Siedlungsbau und damit eben auch häufig zum Wohnhochhaus in der Peripherie gibt.
Kontinuierlich verschieben sich innerhalb dieser Zeit die Entwicklungsprinzipien von der Siedlung zur Großsiedlung und damit zum Massenwohnungsbau. Das Interesse an Rationalisierung und Vorfertigung in der Wohnungsproduktion dominiert nun die Planungssorgfalt räumlicher Kompositionen in offenen Stadtlandschaften. Die Kritik an der Unwirtlichkeit dieser Entwicklung, welche sich in der Mitte der 60er Jahre mit zunehmender Vehemenz zu artikulieren beginnt, führt Mitte der 70er Jahre zu einer radikalen Abkehr von ebendieser Planungspraxis und einem dramatischen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel, in dessen Folge die Schönheit der Stadt wiederentdeckt wird. Die Pflege ebendieser Innenstädte als Lebens- und Wohnort und der Erhalt ihrer urbanen Qualitäten wird nun schlagartig das vorderste Ziel.
Was ein urbanes Hochhaus sein muss
Der Typus des Hochhauses tritt damit aus der Debatte der Wohnraumversorgung in einem suburbanen Umfeld in einen urbanen Dialog. Das Maß, an dem ein urbanes Hochhaus gemessen wird ist nun nicht mehr ausschließlich die Frage nach der Wohnzufriedenheit seiner Bewohner, sondern ebenso die Frage nach dem Mehrwert für die Stadt als Ganzes.
Das Leben im urbanen Wohnhochhaus vereint die unmittelbare Teilhabe am städtischen Leben mit dem Komfort der Ruhe und dem Genuss der Weite über der Stadt. Neben diesem Privileg für seine Bewohner muss das urbane Wohnhochhaus ein „Haus für Alle“ sein:
Das urbane Wohnhochhaus wird -bestenfalls mit weiteren Hochhäusern und Wohnhochhäusern- an zentralen Orten liegen, die durch öffentlichen Nahverkehr gut erreichbar sind.
Das urbane Wohnhochhaus wird einen öffentlichen Raum für die Bewohner des umgebenden Quartiers herstellen. Die Nutzung der Erdgeschosse des urbanen Wohnhauses wird ein Angebot für Alle sein.
Das urbane Wohnhochhaus wird sich aus der Regelhöhe der Stadt herausentwickeln und abhängig vom Charakter der Stadt eine Höhe einnehmen, welche in der Lage ist, ebenso mit dem konkreten Ort, wie dem gesamten Körper der Stadt in Dialog zu treten.
Jedes hohe Haus, so auch das urbane Wohnhochhaus ist für alle sichtbar und von allen Seiten sichtbar. Es wird deswegen keine besseren und schlechteren Fassaden geben und kein Vorne und kein Hinten.
Das urbane Wohnhochhaus hat Ausdruck und Charakter, mit dem sich bestenfalls die gesamte Stadtgesellschaft identifiziert. Dieser Ausdruck misst sich nicht an der Besonderheit des Momentes, sondern am Niveau der Alltäglichkeit. Denn die Stadt ist kein Sammelsurium von Kuriositäten, sondern ein Ort diskreter Neutralität.
Bildnachweis: BFW Bayern
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